Wilmes-Doku
music lyrics

home

music






Rungholt

Der Januar war kalt, an der Küste, im Norden in diesem Jahr 1362.
Der starke Westwind fegte durch die Straßen und Gassen von Rungholt.
Die Feuer loderten in den Kaminen, der Rauch aus
den Schornsteinen floh nach Osten Richtung Husum.
Die Menschen kannten die Gefahr und bereiteten sich auf eine starke Winterflut vor.
Die Nordsee drückte schon jetzt viel Wasser durch den Heverström.

Es nahte der Marcellustag. Die Alten wussten es, durch Überlieferungen.
Noch nicht einmal einhundertfünfzig Jahre war es her, als die Menschen hier
hart getroffen wurden. Marcellus war ein Papst, heilig gesprochen,
der Tag nach ihm benannt.

So rauh der Ort auch war, draußen vor dem Festland, vielen Menschen
ging es gut. Reger Handel wurde betrieben, es gab Waren von weit her,
ja sogar aus Spanien. Die Schiffe brachten durchaus Wohlstand.
Doch jetzt wurden die Wolken dunkler, der Sturm ballte seine Fäuste.

Es wurde unheimlich, in der Dunkelheit der Nacht. Kaum jemand
wollte noch vor die Tür, die kalte Gischt brannte auf der Haut.

Niemand an diesem Ort hatte mit einer derartigen Flut gerechnet.
Durch die Straßen rollte der kalte, blanke Hans. Panik brach aus.
Die Menschen flohen auf die Dächer oder suchten Schutz
in der Kirche, doch die Stiegen waren überfüllt, der Dachstuhl zitterte.
Selbst die Kirchwarft war nicht hoch genug und das Gotteshaus
maß nur vierzig Meter in der Länge. Tausende von Menschen suchten Schutz,
doch auch keine der anderen Warften war hoch genug.

Bis zum Morgen war der Sturm weiter angewachsen.
Seit Tagen hatte er Wassermassen nach Osten geschoben,
an die Küsten von Nordfriesland. Immer mehr Häuser stürzten ein,
das Drama nahm seinen Lauf.

Längst vor diesem 16. Januar waren die Bürger Rungholts bereits geschwächt,
hatten sie doch Jahre der Pest hinter sich. Und sie konnten nicht wissen,
dass dieser Sturm bereits in einen Tag zuvor im englischen
Suffolk County die wohlhabende Hafenstadt Dunwich ins Meer gespült hatte.

Das aufgepeitschte Meer war dabei, die nordfriesischen Uthlande zu zerreißen.
Etwa einhunderttausend Hektar meist fruchtbares Kulturland wurde ein Raub
der gnadenlosen Wassermassen. Jeder kämpfte um sein eigenes Leben.
Hilferufe verhallten nach und nach. Dächer schwammen und zerbrachen.
Dazwischen das Hab und Gut der Friesen und das hilflose Vieh.

An der Küste durchstieß die wilde Nordsee die Marschen
und zerstörte die alte Küstenlinie mit ihren schützenden Nehrungen.
Man sagt, der Meer gibt und das Meer nimmt.

Das ganze Ausmaß dieser Januar-Tage konnte damals niemand überschauen.
Die Beschreibungen sprachen von einer mächtigen Westsee,
vier Ellen über den höchsten Deichen in Nordfriesland.
Das sind gut zweieinhalb Meter, die ungehindert in das Land strömten.
Einundzwanzig Deichbrüche soll es gegeben haben.

Rungholt und sieben weitere Kirchspiele in der Edomsharde verschwanden.
Zehntausende Menschen verloren an der gesamten Westküste ihr Leben.

Was wir heute als Wattenmeer kennen mit einigen Halligen,
war damals ein besiedelter Raum, mit buntem Leben, kleinen Wäldchen,
Feldbestellungen und Viehhaltung.

Viele Sturmfluten haben diese Landschaft verändert.
Doch die Marcellusflut war vermutlich die schlimmste aller Fluten.

Viele sagen, die Nordsee ist eine Mordsee.
Ja, das kann sie sein.
Aber sie ist auch ein sehr schönes und faszinierendes Meer.


© Werner Wilmes